
2020 trat sie leider nur per Video für den Nordischen Klang auf. Dieses Jahr wird die Künstlerin mit der klaren Stimme hoffentlich live in Greifswald zu sehen sein. Karmen Rõivassepp kommt eigentlich aus Estland, verfolgt ihre musikalischen Ziele aber aktuell in Dänemark. Hier hat sie ein paar Fragen zu ihrem künstlerischen Schaffen beantwortet.
Du bist Jazzsängerin. Warum Jazz? Und welche Musikrichtungen magst du außerdem?
Ich hatte schon immer das Bedürfnis zu improvisieren, seit ich ein kleines Kind war. Ich habe in sehr jungem Alter mit dem klassischen Piano angefangen, aber ich habe nie völlig die Schönheit daran verstanden und immer das Gefühl gehabt, dass dabei eine gewisse Freiheit fehlte. Also fing ich an, meine eigenen kleinen Song-Skizzen zu schreiben und machte erste Erfahrung mit Improvisation. Seitdem war es um mich geschehen. Ich denke, es ist die Gemeinschaft, das gemeinsame Schaffen, und nicht genau zu wissen, wohin die Dinge führen – das macht es so aufregend für mich.
Wo hast du Simon Eskildsen, Adrian Christensen und Daniel Sommer kennengelernt?
Seit 2012 habe ich mit den Jungs getrennt voneinander in unterschiedlichen Konstellationen gespielt. Wir haben an der gleichen Musikakademie in Aarhus studiert, und da das Jazzmilieu hier sehr klein ist, war klar, dass man früher oder später alle kennenlernen würde. Es hat nur eine Weile gedauert, die drei in der gleichen Band zu versammeln. Doch am Ende hätte es keinen besseren Zeitpunkt dafür geben können – und jetzt sind wir hier schon vier Jahre zusammen und haben eine wunderbare gemeinsame Zeit.
Was magst du am meisten an eurer Zusammenarbeit?
Ich finde, dass jeder von uns etwas einzigartiges mitbringt, musikalisch wie auch praktisch. Es funktioniert, weil alle von uns den gemeinsamen Wunsch haben, dass es funktioniert und dass wir in Bewegung bleiben. Ich denke, dass ist das, was ich am meisten liebe – den Fakt, dass wir alle so eifrig sind weiterzuarbeiten und besser zu werden und unsere Musikalität zu entwickeln und Sachen auszuprobieren, die neu und aufregend für uns sind. Es gibt nichts besseres als sich zugehörig zu fühlen, und genau so erlebe ich es mit den Jungs .
Wo und wie findest du Inspiration für neue Melodien und Texte?
Es gibt so viele mögliche Wege beim Komponieren, aber für mich ist der zündende Funke eine gefühlsbedingte Idee. Meine Musik dreht sich viel um die Dinge, die ich im täglichen Leben erfahre, oder um Ereignisse, die mich irgendwie berührt oder verändert haben. Und dann gibt es natürlich noch eine Million Kompositionstechniken, die ich für die Entwicklung des melodischen und harmonischen Materials nutze. Aber alles ist verwurzelt in einem bestimmten emotionalen Erlebnis.
Man kann lesen, dass deine Familie musikalisch ist. Kommt daher auch deine Begeisterung für Musik?
Meine Familie ist der entscheidenste Grund dafür, dass ich Musikerin wurde. Die endlose Freude für die Musik, für das Singen und das Piano Spielen in meiner Famile ließ mich zum ersten Mal realisieren, dass das etwas für den Rest meines Lebens sein könnte. Es waren meine Geschwister, die immer MTV hörten oder online mit mir wahnsinnig gute Musik teilten, und es waren meine Eltern, die mich immer unterstützt und sogar ermutigt haben, mich in der Musik ausbilden zu lassen. Ohne sie würde ich vermutlich etwas komplett anderes machen.
Was würdest du denn machen, wenn du keine Musikerin wärst?
Ich wollte Jura oder Medizin studieren, wenn ich bei der Akademie in Estland nicht angenommen worden wäre. Ich wäre wahrscheinlich Therapeutin oder Psychiaterin geworden. Ich war immer fasziniert von Themen, die etwas mit der Psyche zu tun haben. Da ich selber schon mit Ängsten zu kämpfen hatte, interessiere ich mich weiterhin sehr dafür. Wenn die Welt sich aufgrund der Coronapandemie geändert hat, müsste ich mich vielleicht nur für eine neue Ausbildung melden?
2012 bist du nach Dänemark zum Studium nach Aarhus gezogen. Was ist das Besondere an dieser Universität?
Ich bin umgezogen, nachdem ich ein Jahr an der Akademie in Tallinn Musik studiert habe. Als Austauschstudentin kam ich für ein Jahr nach Dänemark, hauptsächlich um zu sehen, wie die Dinge außerhalb Estlands angegangen und unterrichtet werden. Zu dieser Zeit zweifelte ich immer noch sehr, ob ich in der Zukunft in der Musik meine Berufung finden würde. Die Akademie in Aarhus hat mir allerdings viele Türen geöffnet. Es war wichtig, gleichdenkende Leute zu treffen, die vielleicht genau so verloren waren wie ich, um den eigenen Stil und eigene Ideen zu entwickeln. Ich hatte die Freiheit, alles machen zu können, was ich wollte; und das – kombiniert mit dem Ortswechsel und den erstklassigen Einrichtungen – erlaubte mir, meine Kreativität frei laufen zu lassen. Da entschied ich zu bleiben und das war wahrscheinlich die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.
Was kannst du über das Jazzmilieu sagen? Gibt es einen großen Unterschied zwischen Dänemark und Estland?
Ich würde sagen, der größte Unterschied zwischen Estland und Dänemark ist die Landesgröße. Die Jazzszene in Estland ist extrem klein und es kann schwierig sein, erst einmal akzeptiert zu werden und dann aus den Leuten hervorzustechen, die gleichermaßen talentiert und zielorientiert sind. In Dänemark gibt es hingegen eher den Platz für Menschen, die ähnliche Dinge tun, aber jeder hat trotzdem meist sein eigenes Publikum.
Denkst du, dass das Jazzpublikum altert oder dass der Jazz weiterhin ein junges Publikum hat?
Das ist eine wirklich schwere Frage. Ich denke, was wir erkennen müssen, ist, dass Jazz als Genre in steter Entwicklung ist. Ich persönlich kenne so viele Jazzmusiker*innen, die durch Umwandlungen verschiedener und populärerer Stile ein junges Publikum anziehen. Ja, oldschool Mainstream Jazz mag eher ältere Generationen reizen (obwohl ich eine Menge junger Menschen kenne, die ebenfalls total darauf abfahren). Aber wenn wir über Hiphop-inspirierten, Indie oder Electronic Jazz reden, denke ich, dass so etwas definitiv die junge Generation fesselt. Also hängt es wirklich davon ab, was man als Jazzmusik sieht.
Welches war das schönste Kompliment, das du je nach einem Auftritt bekommen hast?
Ich denke das übliche, aber irgendwie ist das beste Kompliment, wenn Leute zu dir kommen und sagen, dass sie die Jazzmusik nie richtig mochten oder verstanden haben, aber dass unser Konzert ihre Ansicht, wie sie Jazzmusik und Jazzsänger*innen wahrnehmen, verändert hat.
Was für Musik hörst du privat?
Ich höre alles und jeden. Es gibt keine Grenzen für mich. Wenn ich mir was auflege, dann soll es mich inspirieren. Und das kann buchstäblich alles mögliche sein – von Klassik zu Mainstream Jazz zu Indie zu Neo-Soul zu Electronica zu Tanzmusik. Derzeit gibt es kein Limit, was natürlich Fluch und Segen zugleich ist, aber es ist definitiv sehr inspirierend!
Welche positiven und negativen Konsequenzen hast du durch die Coronakrise erlebt? Verbringst du mehr Zeit zuhause und arbeitest an neuen Ideen und Projekten, oder vermisst du die Bühne und zu reisen? Wie ist die aktuelle Lage für Musikschaffende in Dänemark?
Das Positivste, an das ich bei all der vielen Zeit denken kann, ist die Arbeit an meiner Stimme. Es war endlich genug Ruhe, um an meiner Gesangstechnik und der Musikalität zu arbeiten. Und ich muss mehr Zeit zuhause in Estland bei meiner Familie verbringen. Das war besonders wichtig, da ich lange außer Landes gelebt habe. Also dafür bin ich extrem dankbar. Ein weiterer Vorteil ist, dass ich mir viel bewusster über meine psychische und mentale Gesundheit wurde. Insofern ist nicht alles so schlecht… Aber unabhängig davon, bemerkt man nun die vielen Dinge, die im System falsch laufen – insbesondere wenn man ein*e Freiberufler*in während einer Krise ist. Wo plötzlich unser Beruf zu einem Hobby degradiert wird, das nicht als notwendiger Teil der Gesellschaft angesehen wird. Wo Leute mit jahrelanger Erfahrung im Geschäft ihre Instrumente verkaufen, ihre Beschäftigung wechseln oder zeitweise eine andere Arbeit finden mussten. Es geht um das Neuerfinden von sich selbst, um in die virtuelle Realität zu passen, wo niemand willens ist, jemanden für die Arbeit zu bezahlen, für die derjenige Leidenschaft hat. Nutzlos zu sagen, dass man nur so viel neu an sich erfinden kann, wenn die Karriere auf Interaktion und das Spielen vor einem Live-Publikum fußt. Alle von uns brauchen einen Plan B, aber gleichzeitig scheint es extrem unfair, unsere Situation mit der von Leuten zu vergleichen, die im öffentlichen Bereich arbeiten und in bezahlten Urlaub geschickt wurden. Ich habe nicht die Absicht als bitter und anschuldigend dazustehen, denn ich habe den Beruf, den ich gewählt habe. Jedoch gibt es kein Fach in der Musikausbildung, das auf das Bewältigen einer Pandemie vorbereitet, während die Regierung unzureichende Unterstützung für die tausenden und abertausenden Menschen leistet, die betroffen sind.
Mit welchem Musiker würdest du gerne mal in der Zukunft spielen? Und in welchem Land oder in welcher Stadt, wo du noch nie warst, würdest du gerne ein Konzert geben?
Ich war nie eine große Visionärin oder Träumerin, aber ich hoffe, dass ich eines Tages regelmäßig außerhalb Dänemarks spielen werde. Ich liebe es total, aufzutreten und neue Menschen zu treffen und aufregende Kulturen zu erleben. Es ist wahrscheinlich albern, angesichts Corona auch nur daran zu denken, das eigene Haus zu verlassen, aber man weiß nie, es könnte ja doch wahr werden!
Worauf freust du dich in Greifswald? Was erwartest du?
Das wird unser erstes Konzert in Deutschland! Wir freuen uns außerordentlich, die absolut großartige Nordischer Klang-Familie kennenzulernen, andere aufstrebende nordische Künstler*innen zu treffen und eine reale menschliche Erfahrung mit den wundervollen Greifswaldern zu haben!
(Das Interview führte und übersetzte Nina Babuliack.)