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Der Schwede, der in die Welt hörte

Am 25.2.2024 ist der schwedische Jazzbassist und Komponist Georg Riedel im Alter von 90 Jahren verstorben. In Schweden kennen ihn fast alle, auch die ganz kleinen, schließlich schrieb er Musik und Lieder zu den Pippi-, Michel-, Karlsson- und Bullerbü-Filmen und erfand damit eine neue Kindermusik. Er wurde 1934 in Karlsbad als Sohn von jüdisch-deutschen Eltern geboren, die vor dem Krieg mit ihm nach Schweden flüchteten. Neben Arne Domnerus und Lars Gullin ist er einer der wichtigsten Protagonisten im klassischen schwedischen Modern Jazz der 1950er bis 1970er. Mit dem Pianisten Jan Johansson spielte er das Album Jazz på svenska (1964, Jazz auf Schwedisch) mit Volksmusikmelodien im Jazzgewand ein, eine der meistverkauften schwedischen Jazzplatten, die man in fast jedem zweiten Haushalt hörte. Beim Nordischen Klang 2022 spielte die sechsköpfige Östgötabandet ein Konzert ausschließlich mit Kompositionen von Georg Riedel.

Aus Anlass seines Todes hier ein Text über ein Interview, das Frithjof Strauß für die Zeitschrift Jazz Podium anlässlich einer CD-Veröffentlichung mit NDR-Aufnahmen von Johansson und Riedel 2011 geführt hat – in leicht revidierter Fassung. Die Fotos stammen vom Ystad Sweden Jazz Festival 2021.

Der Schwede, der in die Welt hörte
Georg Riedel im Gespräch über Jan Johansson

Am 16. September wäre der schwedische Pianist Jan Johansson 80 Jahre geworden. Heute ist der 1968 bei einem Autounfall gestorbene Musiker vor allem als Pionier des Folklorejazz bekannt. Sein Album Jazz på svenska (Jazz auf Schwedisch), auf dem er 1961 zusammen mit dem Bassisten Georg Riedel Volksmusik interpretierte, ist ein Meilenstein der skandinavischen Jazzgeschichte – künstlerisch und populär. Und sein Pippi Langstrumpf-Lied von 1968 kennt jedes Kind.

Jan Johansson aber auf den nordischen Folklorejazz zu reduzieren, wäre falsch. Im Gegenteil: Jazz på svenska war lediglich ein kleiner Schritt auf seinem Weg von der Basis des Jazz hin zu einem universellen Musikkonzept, das die Folklore aller Kulturen ebenso einschloss wie die Jahrhunderte der klassischen Musik. Diese Entwicklung hat der Musikwissenschaftler Erik Kjellberg, der Vater von Viktoria Tolstoy, in seiner vor zwei Jahren erschienenen, gründlichen musikalischen Biographie über Johansson beschrieben. Und ebenso fällt das Resümee meines Gesprächs mit Georg Riedel aus. Anlässlich der Veröffentlichung von NDR-Aufnahmen mit Johansson und ihm auf dem ACT-Label gibt er sehr freundlich Auskunft.

Ich erreiche Georg Riedel am Telefon in seinem Haus auf der Ostsee-Insel Fårö. Ingmar Bergman hat hier vor karger Naturkulisse surrealistische Seelendramen gedreht, und seinen Hauptwohnsitz aufgeschlagen. Auch Riedel zieht es schon seit vielen Jahren hierhin. Wir unterhalten uns auf Deutsch, der Sprache seiner Eltern. Er wurde 1934 in Karlsbad geboren. Als er vier Jahre alt war, emigrierte die Familie nach Schweden. 1953 begann er in der Band von Lars Gullin seine Musikerlaufbahn und wurde seitdem ein Hauptname im Jazz des Nordens. Auch jetzt hat er viele Eisen im Feuer: „Zurzeit komponiere ich vor allem, besonders für Chor. Auch Filmmusik habe ich kürzlich geschrieben, und natürlich trete ich weiterhin als Bassist auf. Außerdem plant die Bigband des Hessischen Rundfunks ein Projekt mit meinen Kinderliedern zu den Astrid Lindgren-Filmen." Und nach Böhmen hat er seit neuestem auch wieder Kontakte: Ein Konzert in seiner Geburtsstadt Karlsbad ist im Gespräch.

Seit 1956 arbeitete Riedel mit Johansson, mit dem er privat befreundet war, intensiv zusammen. Zunächst im Ensemble von Arne Domnerus, später auch oft im Duo- und Triozusammenhang. "Domnerus war ein großer Bewunderer Jans. Er spielte oft seine Kompositionen, und Jan hatte viele Freiheiten in der Band. Später hat man behauptet, dass Domnerus die schwedische Jazzszenen polarisiert hätte, aber das betraf auf keinen Fall Johansson."

Svend Asmussen, der dänische Violinist, hat einmal erzählt, wie er in einer Jam mit Johansson nicht mehr das Gefühl hatte, selber zu spielen, sondern dass es ihm vorkam, als würde eine höhere Macht seinen Bogen führen. Auf die Frage, ob das wohl an Johanssons Charisma gelegen haben mag, muss Riedel lachen: "Ich denke nicht in den gleichen Dimensionen wie Asmussen. Aber es stimmt, Jan hatte eine ernste Ausstrahlung, ohne dass er dabei viel sagte. Wenn er zugegen war, strengten sich alle an, es richtig gut zu machen. Er war bescheiden, aber hatte auch viel Humor; privat und in der Musik. Da machte er viele verrückte Sachen."

Man kann in Johanssons Pianistik Anklänge an George Shearing und Lennie Tristano hören. Er selber nannte erstaunlicherweise die üppige Virtuosität Art Tatums als Vorbild. "Nein, von Art Tatum konnte man bei ihm nicht viel spüren. Wer aber besonders wichtig war, das ist Oscar Peterson. Von ihm hatte er eine Menge in Sachen Timing gelernt. Ganz spannend ist, dass er sich zum Schluss für Sun Ra interessierte, für seine elektronischen Experimente und vor allem für seine Kompositionen."

Das Album Jazz på svenska mit dem Duo Johansson/Riedel hat sich bis 2009 über 400.000 Mal verkauft, schreibt Kjellberg. Wikipedia nennt aktuell sogar eine Million, aber das kann auch Riedel nicht glauben. Der enorme Erfolg ist umso erstaunlicher, als dass keine bekannten Volkslieder bearbeitet wurden, sondern Material aus dem musikethnologischen Archiv. Für die Piano-Bass-Formation gab es zwar Vorläufer wie Duke Ellingtons Duette mit Jimmy Blanton, doch im Gegensatz zu den solistischen Erwiderungen des Letztgenannten ist Riedels Rolle die des dezenten Begleiters. "Ich spielte keine Solos, denn Jan wollte, das alles so einfach wie möglich klingt. Er wollte die melodische Dimension dieser Folklore hervorheben. Ebenso wie Lars Gullin gelang es ihm, dass unsere Musik keine Kopie mehr des Jazz aus den USA war." Einen spezifisch 'schwedischen Jazz' zu kreieren lag Johansson indes fern. Bald folgten Alben mit "Jazz auf Russisch" und "Jazz auf Ungarisch". "Er war an Volksmusik von überall her interessiert." Er beschäftigte sich mit Musik aus Indien, Afrika und der Karibik. Sein Pippi Langstrumpf-Thema mag man für erzschwedisch halten: Es ist aber inspiriert von einer Platte mit einem Polizeiblasorchester aus Ghana.

Die 60er Jahre waren für Riedel und Johansson eine Zeit der Begegnung mit den anderen Künsten. "Einmal spielten wir in der Kunsthalle von Göteborg vor einem Gemälde von Jackson Pollock. Die Spontaneität und Improvisation des Jazz erkannten wir in seiner Malweise wieder." Sie schrieben für Film, Theater und Ballett. "Die Ballettmusik war eine Herausforderung, denn hier konnten wir  längere Stücke komponieren." Mit der Schwedischen Radiojazzgruppe stand ihnen ab 1967 ein modernes Jazzorchester zur Verfügung, das vor allem großformatigen Kompositionen ein Podium bot.

Johanssons Jazz am Ende seines Lebens speist sich aus Klassik, Folklore, globaler Popularmusik – "Musik aus vier Jahrhunderten" heißt seine letzte LP. Er war ein Mann, der in die Welt hörte. Nicht nur im universalmusikalischen Sinn als Künstler, sondern auch ganz buchstäblich als Funkamateur, der mit Menschen rund um den Erdball Kontakt pflegte. Andererseits verfolgte er die Avantgarden des Jazz sowie der Kompositionsmusik und experimentierte mit präpariertem Klavier und Elektronik. "Er hatte ja ursprünglich Elektrotechnik studiert, und damals erforschte er damit neue Klangmöglichkeiten." Eines dieser posthum veröffentlichten Stücke trägt den Titel "300.000 km/s" – gemeint ist die Lichtgeschwindigkeit. Am Ende, so scheint es, strebt Johansson vom Globalismus ins zu erforschende Kosmische. Der Tod riss ihn aus dieser künstlerischen Umbruchphase.

Text: Frithjof Strauß

CD: Jan Johansson with Georg Riedel “In Hamburg”, ACT 9510-2

Buch: Erik Kjellberg ”Jan Johansson. Tiden och musiken”, Gidlunds förlag 2009, 442 Seiten + CD