Flucht aus der ddr über die Ostsee

Im Rahmen des Digitalen Klangs, der kleinen Schwester des Nordischen Klangs, möchten wir der eigentlich analogen Podiumsdiskussion im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg gerecht werden und den Beteiligten einen virtuellen Raum bieten. Im nachfolgenden Beitrag hat das Team des Nordischen Klangs die Möglichkeit gehabt, ein Interview mit Merete Peetz, Mitarbeiterin am Teilprojekt „Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee“, durchzuführen. Gast bei der Podiumsdiskussion wäre u.a. der dänische Autor und Journalist Jesper Clemmensen gewesen, der sich mit der dänischen Perspektive zur Flucht-Thematik beschäftigt. Er wird in einem kurzen Portrait vorgestellt, ebenso sein bekanntestes Buch.

Das Ostseeflucht-Projekt der Universität Greifswald

Frau Peetz, Sie sind Mitarbeiterin am Teilprojekt „Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee“, das zum Verbundprojekt Grenzregime gehört. Wie ist das Projekt entstanden?
Hierzu kann ich persönlich nicht so viel sagen, da ich das Projekt nicht beantragt habe. Es gibt schon einige andere Arbeiten, die sich mit tödlich ausgegangenen Fluchtversuchen aus der DDR befassen. So gibt es einmal von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke das biographische Handbuch über die Todesopfer an der Berliner Mauer und auch eines der Opfer der innerdeutschen Grenze, das von unserem Berliner Kooperationspartner herausgegeben wurde. Die Aufarbeitung der Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee ist in diesem Zusammenhang einfach eine konsequente Fortsetzung um diese Menschen und deren Schicksal nicht Vergessenheit geraten zu lassen.

Was ist das Ziel des Projekts? – Wenn man es so bezeichnen kann.
Am Ende des Projektes wollen wir auch ein biographisches Handbuch herausgeben. Hier werden zu den jeweiligen Personen, die wir im Laufe unserer Forschung ermitteln konnten, kleine Biographien zu lesen sein, bei denen deren individueller Werdegang nachgezeichnet wird. Je nach Informationslage kann das dann mehr oder weniger ausführlich geschehen.
Wie vorhin schon erwähnt geht es in unserem Teilbereich zunächst darum, die historische Lage aufzuklären, also festzustellen, wie viele Menschen tatsächlich bei den zahlreichen Fluchtversuchen über die Ostsee ums Leben gekommen sind. Ein wenn Sie so wollen normatives Ziel des Projekts besteht darin, die ehrende Erinnerung an jene zu ermöglichen, die ihren Versuch, sich aus der DDR zu befreien, mit dem Leben bezahlen mussten.

Sie führen Recherchen zu den Opfern des DDR-Grenzregimes an der Ostsee durch. Wie gehen Sie dafür vor?
Am Anfang steht das Auffinden der Personen. Dafür suchen wir in unterschiedlichen Bereichen und Ebenen der Dokumentensammlung. Zum Beispiel fragen wir bei den für die Küstengebiete zuständigen Standesämtern nach Sterbeurkunden, die einen Ertrinkungstod als Ursache verzeichnen. Wir suchen auch in alten Polizeirapporten nach gemeldeten Leichenfunden. Haben wir eine Person und ihre grundlegenden Daten, dann hangeln wir uns mittels dieser voran. Manchmal bekommen wir aber auch von Familienangehörigen oder anderen den Opfern zugehörigen Hinterbliebenen Hinweise und auch Material zur Rekonstruktion der Lebenswege und des Fluchtvorgangs. Kurz, wir recherchieren in der ganzen unser Forschungsfeld betreffenden Archivlandschaft. Das geht vom Großen, wie BStU oder Bundesarchiv über die Landes-, Kreis- und Stadtarchive bis hin zu den bestimmten Behördlichen Institutionen und deren eigenen Sammlungen wie Standesämter, Staatsanwaltschaften oder auch Justizvollzugsanstalten. Je nach Fall ist das recht unterschiedlich.

Womit beschäftigen sich der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, die Universität Potsdam und das Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin? An welchem Punkt knüpfen womöglich alle aneinander an?
Wir alle gehören zum Verbundprojekt Grenzregime und haben vor diesem Hintergrund in unserer Forschung und unseren Teilprojekten unterschiedliche Fokusse. Die Kollegen vom Forschungsverbund SED-Staat forschen nach den Todesopfern an der verlängerten Mauer, sprich diejenigen, die versucht haben, über die Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts zu gehen und dort die Grenze zu überwinden. In Potsdam liegt das Augenmerk auf der  Mitwirkung des Justizministeriums der DDR bei der Eindämmung von Ausreisebegehren. Die rechtliche Sanktionierung der bei einem Fluchtversuch festgenommenen Personen war für die Machtsicherung des SED-Regimes von herausragender Bedeutung. Das CeDiS führt narrative Interviews mit Zeitzeugen und pflegt unsere gemeinsame Internetpräsenz, die zwar schon vorhanden ist, sich aber noch im Ausbau befindet.

 Sie beschäftigen sich mit den Schicksalen von Menschen, die auf der Flucht aus der DDR umgekommen sind. Können Sie etwas zur aktuell aufgearbeiteten Faktenlage sagen?
Die aktuelle Faktenlage ist lückenhaft, gerade was unseren Forschungsschwerpunkt betrifft. Es gibt zwar die ein oder andere Publikation, die sich mit der Flucht aus der DDR über die Ostsee beschäftigt, wie zum Beispiel die beiden Bücher von Christine Vogt-Müller, doch eine gründliche/vollständige Aufarbeitung der Fälle ist noch nicht vorhanden. Diese Lücke wollen wir annähernd schließen. Annähernd deshalb, weil wir uns dessen bewusst sind, dass wir  wahrscheinlich nicht sämtliche Fälle entdecken werden können. Doch wir können sämtliche uns möglichen Mittel und Quellen zur Suche einsetzen und das werden wir tun, bzw. sind schon dabei.

Wie kommen Sie in Kontakt mit noch lebenden Zeitzeugen und wie berichten diese Menschen von ihrer Flucht?
Auch hier gibt es unterschiedliche Varianten der Kontaktherstellung. Zum einen haben wir die Zeitzeugenaufrufe, die uns schon viele Kontakte ermöglichten, da sich An- und Zugehörige meldeten. Hinzu kommt aber auch das Positive der lokalen Lage unserer Universität. Hier in Greifswald und auch in anderen Gegenden der Mecklenburger Küstenlandschaft, die wir im Zuge der Recherchen besuchten, kam es in Gesprächen immer wieder dazu, dass unsere Gesprächspartner oft eine Person entweder persönlich kannten oder von jemandem im näheren Umfeld wussten, die einen Fluchtversuch unternommen hat. Zu einigen konnten wir tatsächlich auch Kontakt aufnehmen. Hierbei hat sich gezeigt, dass die Wege und Motive, wie schon vermutet, unterschiedlichster Art waren. Was all diese Menschen aber gemeinsam haben, ist eine starke Vorsicht und Skepsis gegenüber allem Neuen und Unbekannten. Einigen fällt es leichter und anderen schwerer, sich zu öffnen und über das Geschehene zu berichten. Die Berichte unserer Zeitzeugen sind schon alleine aus dem Grund dieser Überwindung auch sehr bedeutsam für uns.

Ich kann mir vorstellen, dass das Aufarbeiten von Biografien und der Kontakt mit den Schicksalen der einzelnen Menschen einen selbst berührt. Wie gehen Sie damit um?
Das ist in der Tat nicht immer leicht und ohne einen gewissen Mindestgrad an Demut geht das nicht. Gerade in Gesprächen mit Hinterbliebenen werden die Opfer noch einmal auf ein Neues lebendig und man lernt sie durch die Narration besser als Persönlichkeit kennen. Das ist noch einmal etwas ganz anderes, als einfach nur mit schriftlichen Quellen zu arbeiten und sich alles selber vorzustellen und auszudenken und man rutscht dann sehr schnell von der kognitiven in die emotionale Empathie. Das ist aber zu ertragen und ich habe durch Rückmeldungen gemerkt, dass es einigen meiner Gesprächpartner auch hilft und ihnen Trost gibt. Das gibt einem selber dann wieder Kraft. Ein Zeitzeuge sagte mir in einem Gespräch, dass ich sehr zufrieden wirke. Ich glaube, das ist ein Punkt, der das Ganze aushaltbar macht. Die einzelnen Geschichten und der Ausgang der jeweiligen Schicksale selber sind nicht immer schön und manchmal sogar fast ein wenig gruselig. Doch der immer mitgetragene Gedanke, hiermit das Andenken an einen Menschen zu bewahren, gibt einem schon eine gewisse Zufriedenheit. Letztlich ist es für uns eine Ehre, diese Arbeit machen zu dürfen.

Wo (innerhalb dieses Projekts) kommt der Autor und Journalist Jesper Clemmensen ins Spiel?
Jesper Clemmensen befasst sich selber von dänischer Seite aus mit der Geschichte der DDR. Sein Fokus liegt auf der DDR-Flucht über Dänemark und hierzu hat er auch schon zwei Bücher herausgegeben. Wir sehen ihn als einen möglichen Kooperationspartner im dänischen Ausland für unsere Forschung und hätten sehr gerne dieses Frühjahr mit ihm diese Zusammenarbeit näher besprochen. Im Moment liegt das aufgrund der aktuellen Situation auf Eis, wird aber so bald wie möglich wieder aufgenommen.

Vielen herzlichen Dank für das spannende (E-Mail-)Interview, Frau Peetz!

Die Stimme der geflohenen DDR-Bürger

Jesper Clemmensen / © Privat

Jesper Clemmensen wurde 1975 geboren. Aufgewachsen ist er an der dänischen Ostseeküste, lebt heute aber in Kopenhagen. In seiner professionellen Laufbahn als Autor und Journalist beschäftigte er sich vornehmlich mit den Einzelschicksalen von DDR-Flüchtlingen. Sein Buch über die Fluchtroute Ostsee wurde in seinem Heimatland Dänemark als „Bestes Buch über Geschichte“ ausgezeichnet. Hier nimmt er sich der vielen Menschen an, die ihr Leben auf der Flucht aus der DDR in die Freiheit verloren haben. Dabei beschreibt er in abgesteckten Zeitabschnitten die geläufigen Fluchtrouten, die Hindernisse und Gefahren der Menschen auf ihrem Weg aus der DDR und scheut sich nicht davor, die Grausamkeit des DDR-Regimes aufzudecken.
Insgesamt ermittelte der Autor 50 Schicksale; in seinen Geschichten beschränkt er sich auf die Hälfte. „Ist das wirklich passiert? In meiner Ostsee! In Dänemark fand der Kalte Krieg nicht statt.“, fängt die Wochenzeitung Der Freitag Clemmensens Gedanken ein, die ihn zu Beginn seiner Recherche begleiteten.

Clemmensen ist ebenfalls Macher eines Dokumentarfilms zum Flucht-Thema. Diesen präsentierte der Journalist bereits 2014 im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin. „Man darf eine gute Geschichte nicht verschenken, nur weil sie böse endet.“, zitiert Der Freitag Clemmensen. Und genau das tut der filmische Beitrag des Dänen. In vielen Sequenzen schildert er das Schicksal der Familie Sender: In akribischer Arbeit werden Originalmaterialen gezeigt und die Schicksale der fünf Familienmitglieder rekonstruiert. Dazu hat sich der Regisseur Clemmensen Christoph Sender ins Boot geholt. Er ist Überlebender und Zeitzeuge dieser Flucht und nimmt die Zuschauer mit auf die Reise in seine Vergangenheit, um alles Nichtgesagte aufzuarbeiten, um Gründe für die Flucht zu finden und die Tage vor der Flucht nachzuergründen.

Eine Verbindung zwischen seiner Person und diesen Schicksalen erzählt Clemmensen selbst: Er stammt aus einer Gegend an der vereinzelt deutsche Flüchtlinge das Festland Dänemarks erreichten – ein offenes Geheimnis also, über das niemand sprach und über das die Geflüchteten selbst schweigen.

Clemmensens Buch – Fluchtroute: Ostsee
Die Geschichte über die „unsichtbare“ Mauer zwischen der DDR und Dänemark während des Kalten Krieges

Fluchtroute: Ostsee ist die dokumentarische Geschichte des dramatischen Freiheitskampfes der Ostdeutschen, die die Flucht über die Ostsee zwischen der DDR und Dänemark wählten. Mehr als 6.000 versuchten es, aber die Chance, unsichtbar über die scharf bewachte Küstenlinie und über die Ostsee zu fliehen, war minimal. Weniger als 1.000 Menschen schafften es. Das Buch spricht über die unbekannten Dramen aus einer nicht weit entfernten Zeit.

Zum Schluss möchten wir gern noch erwähnen, dass die analoge Podiumsdiskussion auf den Nordischen Klang 2021 verschoben wird.

Text: Solveig Ziemer

Verweise Jesper Clemmensen:
MDR: „Diese Familie muss unter riesigem Druck gestanden haben“. 15.09.2015.
Tuschick, Jamal: „Es ging nur noch ums Sterben“. In: Der Freitag, 02.12.2014.