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Die klangvollen Saiten des Nordens. Die Hardangergeigerin Johanna Seim beim Nordischen Klang 2024

Als ich Johanna Seim am 1. Mai vom Greifswalder Bahnhof abgeholt habe, wusste ich genauso wenig wie ihr Publikum, was mich erwartet. Kennen gelernt habe ich eine sehr freundliche und warmherzige, sehr reflektierte Musikerin, die sich, ihre Gedanken und Gefühle, meisterhaft mit ihrem Instrument und ihrer langjährig geschulten Stimme ausdrückt.

 

Das norwegische Nationalinstrument, die hardingfele oder Hardangergeige (benannt nach der Region Hardanger), ist eine bauchige, reich verzierte Violine mit vier oder fünf zusätzlichen Resonanzsaiten. Die vier Spielsaiten werden anders als bei einer klassischen Violine üblicherweise auf h – e′ – h′ – fis″ gestimmt, wobei die hohe h-Saite je nach verwendeter Tonart auch auf einen anderen Ton zwischen a und cis′ gestimmt sein kann. Die Resonanzsaiten werden je nach Tonart auf unterschiedlichste Weise gestimmt; es gibt insgesamt über 20 verschiedene Stimmungen für diese und die Spielsaiten mit so poetischen Namen wie ljøsblått (dt. hellblau), grønt (dt. grün) oder der „Schwesternstimmung“. Dadurch erzeugen sie einen stetigen reichhaltigen Klangteppich hinter, unter und um den gespielten Tönen. In Norwegen hat das Instrument eine lange Tradition, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, heute noch gepflegt wird und im Rahmen von folkloristischer Musik und Tanzfesten eng mit der Kultur des Landes verwoben ist.

Vom Bahnhof aus ging es direkt zum Greifswalder Marktplatz zum Fest der Kulturen, wo Johanna dem Nordischen Klang einen „Vorklang“ vorausgeschickt hat. Dieses erste Konzert war zwar kurz, kam aber sehr gut an – ein anlässlich der Eröffnung des Festes für die frühe Stunde schon gut gefüllter Marktplatz wohnte ihm mit einem Lächeln im Gesicht bei und quittierte die vier Stücke auf dem ungewohnten Instrument mit wohlverdientem Applaus.

 

Gleich das erste, Skorsvikjen (dt. „Das Stück aus Skorsvika“), war ein schönes Beispiel traditioneller norwegischer bygdedansmusikk (dt. Dorftanzmusik), wie es typischerweise auf Tanzfesten gespielt wurde und wird.

Dort kam es, vor allem, wenn getrunken wurde – und getrunken wurde eigentlich immer – auch mal zu Prügeleien, aber spätestens bei den Klängen von Ufredslåtten (dt. „Unfriedensstück“), Johannas zweitem Stück, wusste jeder, dass jetzt Ruhe einzukehren hat.

Noch ruhiger und lyrischer wurde es bei Fentungen (dt. „Landstreichermädchen“), einem Stück über eine junge Waise, die durch das ländliche Norwegen zieht. Wo immer sie unterkommt, tauscht sie Lebensmittel oder Informationen darüber, wo es die besten Fische zu fangen und die saftigsten Beeren zu pflücken gibt, gegen den Gesang ihrer schönen Stimme ein.

Zum Abschluss sang und spielte Johanna ein selbstgeschriebenes Lied, „Alles kann, nichts muss“:

 

„[...] Ich wär‘ gern in Norwegen,

oder in Schweden,

denn dort oben im Norden

gibt es noch heute

eine grenzenlose friedliche Weite,

fernab vom Lärm der Motoren

können sich Gedanken dort noch erholen.

 

Ich meine, nur mal so angenommen,

ich wäre im Leben jetzt angekommen,

was hätte ich denn dann gewonnen?

Wie würde das bitte aussehen,

wie sauber gemauerte Stauseen?

Nein, danke, da will ich nicht mitgehen,

durch Mauern kann ich nicht durchsehen

und Stillstehen kann ich nicht ausstehen.

Drum lasst mir doch bitte mein luftiges Wesen

und kehrt euren Dreck nicht mit meinem Besen,

denn eines ist sicher wie Strömung im Fluss:

 

Alles kann, nichts muss.“

 

(Auszug aus dem Text von „Alles kann, nichts muss“ von Johanna Seim)

 

„Ich blickte von der Bühne auf dem Marktplatz in viele freundliche Gesichter und bekam so ein schönes zuversichtliches Gefühl, dass dies ein paar wundervolle Tage mit dem Greifswalder Publikum werden würden.“

– Johannas eigene Eindrücke vom Marktplatz-Konzert

Dieses letzte Stück bringt gut die Beziehung Johannas zu Norwegen zum Ausdruck: 1989 als Tochter von Künstlern im Osten Berlins geboren und dort inmitten eines radikalen politischen Wandels und kreativer Verspieltheit aufgewachsen, betätigte sie sich im kleinstädtischen Brandenburg in verschiedenster Weise künstlerisch und entdeckte den Gesang als ihre größte Leidenschaft.

Nach dem Studium der VWL und der Umweltökonomie machte sie sich 2016 mit ihrem Fahrrad und ihren Siebensachen nach Norwegen auf, um dort Zeit und Muße für ihre Musik fernab vom Trubel der Großstadt zu finden. Dort entdeckte sie in dem kleinen Ort Rauland die Hardangergeige für sich und verbrachte die nächsten drei Jahre mit dem Studium des Instruments und der damit verbundenen Musik in der Abteilung für folkloristische Kunst am University College of Southeast Norway. Seit 2020 studiert sie unter dem renommierten Meisterlehrer Knut Hamre.

Einen kleinen Teil des Gelernten gab Johanna dann am nächsten Morgen meinen Mitstudierenden und weiteren Interessierten im Kammermusiksaal des Instituts für Kirchenmusik und Musikwissenschaft im Rahmen eines aufschlussreichen Vortrags weiter.

Bild: Benjamin Loges, © 2024

Diesen begann sie passend zum Instrument mit einem alten Stück aus Hardanger; Otteslåtten (dt. „Das Stück nach Otte Haukanes”). Die älteste erhaltene Hardangergeige stammt aus dem Jahr 1651; die älteste erhaltene Stradivari (sic!) von 1666.

Darauf folgte das Stück Reisaren (dt. „Der Reisende”), und da das Instrument vorwiegend als Begleitung beim Tanz gespielt wurde und wird, brachte sie uns auch gleich einen traditionellen norwegischen Tanz bei, einen sogenannten gangar, bei dem paarweise reihum getanzt wird (oft finden auch Paare dabei zueinander).

Weiter ging es mit dem Stück Vetla jento mi (dt. „Mein kleines Mädchen”). Die hardingfele wurde schon immer auch in alltägliche Bräuche integriert, so z. B., um eine Hochzeitsgesellschaft zur Kirche zu führen. Und so passte es sehr gut, dass Johanna uns als nächstes einen traditionellen norwegischen Hochzeitsmarsch vorspielte; Bruremarsj frå Seljord (dt. „Hochzeitsmarsch aus Seljord”).

 

1842 wurde in Norwegen das sogenannte Religionsmonopol der Staatskirche aufgehoben, laut dem es nur ordinierten Priestern gestattet war, den christlichen Glauben zu predigen. Das Ergebnis war eine Welle von Erweckungsbewegungen in Form von Laienpriestern, die durch das Land zogen und denen die ausgelassenen Tanzfeste ihrer trinkfesten Landsleute ein Dorn im Auge waren. In dieser dunklen Zeit hörten viele Geiger mit dem Spiel auf oder es wurde dem Nachwuchs gleich verboten, dieses überhaupt zu erlernen. Nicht nur das, der puritanischen Engstirnigkeit selbsternannter Hüter des Glaubens und ihrem Feuereifer fielen viele Instrumente zum Opfer, indem sie schlicht verbrannt wurden. Nach einiger Zeit jedoch ebbte die Welle der Intoleranz im Namen der Nächstenliebe ab und auch Prediger nahmen die Hardangerfiedel mit in ihre Gebetshäuser, um sich und die Gemeinde bei religiösen Gesängen zu begleiten; ein Beispiel für einen solchen gab Johanna sogleich zum Besten.

 

Seit 1888 werden regelmäßig Wettbewerbe, sogenannte kappleikar, veranstaltet, bei denen die besten Spieler gekürt werden; dabei wird in den verschiedensten Disziplinen geprüft, und nachdem wir schon den gangar kennen gelernt hatten, spielte uns Johanna je ein Beispiel für einen springar vor (ein „Springtanz”, der sich besonders durch eine ungerade Metrik auszeichnet) und für ein Stück, wie es oft auf Wettbewerben gespielt wird.

Zu guter Letzt bekamen wir noch ein freirhythmisches „lydarslått”, ein „Zuhörstück” zu hören.

 

„Es war wirklich eine besondere Erfahrung, so umfassend in meiner Muttersprache über die Hardangergeige erzählen zu dürfen. Für mich sind dieses Instrument und die damit verbundene Kultur in Norwegen eine Schatzgrube, aus der ich unermüdlich schöpfe. Allerdings ist dieser Schatz über die Grenzen der norwegischen Volksmusikszene hinaus kaum bekannt. Es macht mir großen Spaß, andere Menschen mit meiner Begeisterung für die Hardangergeige anstecken zu können.“

– Johanna über ihren Vortrag

 

Nach ihrem Abschluss mit Bestnote im Jahr 2019 verbrachte Johanna drei weitere Jahre in der ländlichen Telemark, bevor sie in die Stadt Bergen an der Westküste Norwegens zog. Dort sucht sie weiterhin nach der Verbindung zwischen ihrer Liebe für traditionelle folkemusikk und dem Ausdruck ihrer inneren Welt, sowohl als freischaffende Musikerin als auch als Filmemacherin. Im August 2022 feierte sie ihre Premiere als Regisseurin und Produzentin des Musikdokumentationsfilms Til stede / from soil to soul (dt. in etwa „Im Augenblick sein / von der Erde zur Seele“).

Bild von Patrick Webb, mit freundlicher Genehmigung von Johanna Seim © 2022

 

Diesen bekamen wir am Abend im Rahmen einer Vorführung im St. Spiritus, dem soziokulturellen Zentrum Greifswalds, zu sehen.

Der Film handelt vom Aufeinandertreffen dreier Frauen: Johanna und die griechische Musikerin Marianna Sangita Angeletaki Røe, die zusammen ein neues Stück erarbeiten. Nebenbei lernen wir die belgische Gärtnerin Ana Julie Verbelen kennen, die Permakultur und regenerative Landwirtschaft betreibt. Zusammen erörtern die drei Fragen über die Gesellschaft und den Kontakt zu anderen, zur Natur sowie den Wunsch, etwas selbst zu erschaffen und sich auszudrücken, sei es durch Kultivierung des Bodens oder der Seele.

 

Im Anschluss gab Johanna ein weiteres Konzert, verbunden mit Fragen aus dem Publikum zu ihrem Instrument und ihrer bzw. der traditionellen norwegischen Musik (wobei eine Trennung hier schwierig sein dürfte).

Nach einem gangar namens Den gamle Sordølen („dt. Der Alte aus Sordal“) aus Setesdal und einem springar aus der Telemark, Halvor (Eigenname) stellte sie die Frage nach Musikwünschen.

Mein Dozent Dr. Frithjof Strauß hatte sich Til ungdommen (dt. „An die Jugend“) gewünscht, ein Stück des dänischen Komponisten Otto Mortensen, das auf dem gleichnamigen Gedicht des norwegischen Schriftstellers und Journalisten Nordahl Grieg beruht, da die beiden dieses auch im Film spielen. Der Text bezieht sich auf den Spanischen Bürgerkrieg von 1936-1939; Grieg war in diesem als antifaschistischer Kriegsreporter tätig und verarbeitete seine Erlebnisse in einem eindrücklichen Plädoyer für den Frieden.

Til ungdommen hat eine tiefere Bedeutung für Johanna und sie erzählte uns die Geschichte, die sie damit verbindet; von einem jungen Norweger, der nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland in seine Heimat zurückkehrte und zum Kollaborateur der nationalsozialistischen Besatzer wurde. Die Rolle, die er als solcher für die Musik in Norwegen zu dieser Zeit gespielt hatte, hatte ihr schwer zu denken gegeben, nachdem sie die Geschichte dieser Ereignisse durch Zufall herausgefunden hatte.

Weiter ging es, sehr passend zu diesem Stück und auch zu unserer Zeit, mit dem schon erwähnten Setesdaler gangar Ufredslåtten. Zum Abschluss spielte Johanna noch einmal ihr Stück „Alles kann, nichts muss“ und ermunterte uns alle, mitzusingen, was viele dann auch, wenngleich auch etwas zaghaft, gemacht haben.

 

„Auch wenn ich den Film selbst jetzt schon hunderte Male gesehen habe, ist es für mich immer eine intensive emotionale Erfahrung, ihn gemeinsam mit einem neuen Publikum anzuschauen. Einerseits bekomme ich jedes Mal selbst Gänsehaut, z. B. wenn Marianna davon spricht, die Kontrolle in der Musik abzugeben, oder bei Anas Appell: „With the times we are facing, the most important thing is that we can live in communities that are resilient to shock…“ Somit ist der Film für mich persönlich eine konstante Erinnerung daran, mich auf die Dinge zu besinnen, die mir im Leben wirklich wichtig sind. Andererseits schwitze ich immer Blut und Wasser in der Befürchtung, den Zuschauern könnte nicht gefallen, was sie da sehen. Ich glaube das liegt daran, dass ich mich in diesem Film sehr öffne, mich in gewisser Weise nackt mache. Und da wird man sehr angreifbar. Bisher wurde ich zum Glück immer vom Publikum warmherzig und wohlwollend aufgefangen, so auch im St. Spiritus in Greifswald.“

– Johanna über die Vorführung

 

Johannas Debütalbum, Temporary pleasure („Vorübergehende Freude“), eine Zusammenarbeit mit dem Multi-Instrumentalisten Sjur Nyvold, erschien im Februar 2023 und kann auf Bandcamp (https://johannaseim.bandcamp.com/album/temporary-pleasure) gehört und erworben werden.

 

Weitere Informationen zu Johanna Seim und der Musik, die sie spielt:

https://johannaseim.com/

https://www.youtube.com/@johannaseim962/videos

 

Und hier gibt es weitere Musik auf der Hardangergeige zu hören, die Playlist wurde von Johanna kuratiert:

https://open.spotify.com/playlist/26wICjAxOU1FZ48NrfiybM?si=37ec69d45389465c

 

Autor: Benjamin Loges